Internationales Flüchtlingsrecht nach dem Zweiten Weltkrieg. Konzepte, Akteure, Entwicklungslinien

Internationales Flüchtlingsrecht nach dem Zweiten Weltkrieg. Konzepte, Akteure, Entwicklungslinien

Organisatoren
Annette Weinke / Thomas Kleinlein (Jena); Historisches Kolleg, München
Ort
München
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
28.06.2023 - 30.06.2023
Von
Bastian Högg, Neuere und Neueste Geschichte, Universität Augsburg

Die Bilder sind uns so schmerzhaft vertraut: Beamte in schwarzer Kampfmontur, Schnellboote, die Geflüchtete zurückdrängen, kleine, überfüllte Schlauchboote vor Kos, Schleier des Rauchs im Grenzwald zwischen Belarus und Polen. „Push-Backs wie diese“, heißt in der Berichterstattung dann gerne, „verstoßen gegen die Genfer Flüchtlingskonvention“. Die „Weltgemeinschaft“ habe, so lautet es sinngemäß immer wieder, „mit der Flüchtlingskonvention die Lehren aus dem Holocaust gezogen“ und – drohe nun also, sie hinter sich zu lassen.

Die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) gilt als Aushängeschild des internationalen Flüchtlingsrechts, dem Regelwerk also, das die Schutzgewährung für Geflüchtete völkerrechtlich festhält. Sie steht für die rechtliche Regelung der Aufnahme von Geflüchteten und schreibt die Rechte derer fest, denen die Überwindung einer Grenze bereits gelungen ist und die sich in ihrem Zielland befinden. Zugleich dient sie als Chiffre für eine Politik, die Geflüchteten achtsam gegenübertritt und als Referenz auf eine scheinbar vergangene Zeit, in der viele der heutigen Probleme bereits gelöst schienen. Doch was hat es auf sich mit dem „mythischen Status scheinbarer Perfektion“1 der GFK und des internationalen Flüchtlingsrechts, dem der Nimbus einer Patentlösung für Probleme anhaftet, wie sie sich zuletzt wieder in Ost- und Südosteuropa manifestiert haben und für die nun (wieder) eine neue europäische Asylgesetzgebung2 Abhilfe zu schaffen verspricht? Um dies herauszufinden, haben die Historikerin ANNETTE WEINKE (Jena) und der Jurist THOMAS KLEINLEIN (Jena) eine Konferenz ausgerichtet, die Konzepte, Akteure und Entwicklungslinien, die das internationale Flüchtlingsrecht seit 1945 geprägt haben, einer genaueren Überprüfung unterzogen hat.

Zu Beginn der Tagung erinnerte Kleinlein deshalb noch einmal an den Innovationswert, den die 1951 verabschiedete GFK im Völkerrecht (bis heute) besitzt – trotz Schutzlücken und aller mit ihr verbundenen Probleme. Wohin dabei eine historische Betrachtung führen kann, veranschaulichte Weinke in ihrem Einführungsvortrag, in dem sie resümierte, wie gering die Geschichte der Flüchtlingsforschung bislang noch rezipiert wird. Dabei war sie selbst ein Produkt der großen Bevölkerungsverschiebungen jener Zeit. Deutlich werde dies zum Beispiel an Eugene Kulischer. Der 1881 in Kiew geborene Demographieforscher jüdischer Herkunft floh 1920 zunächst nach Berlin, dann nach Dänemark, Paris – und 1936 schließlich in die USA. Dort hat er 1948 mit „Europe on the Move“ ein einflussreiches Standardwerk verfasst und Begriffe wie „Displaced Persons“ mitgeprägt; also einerseits flüchtlingspolitische Konzepte, aber auch eine ganz eigene, technokratische Sprache, mit der bis heute über Migration nachgedacht wird und in deren Geist auch die GFK und viele der damals neugegründeten Institutionen standen und stehen. Kulischers Biographie verbindet wie die anderer Spezialist:innen der Zeit zentrale Aspekte der Wissens- und Rechtsgeschichte der Flüchtlingspolitik nach 1945 und zeigt beispielhaft, wie Perspektiven auf die Geschichte des Flüchtlingsrechts in ihrem Gewordensein erzählt werden können.

Im Sinne der von Weinke vorgeschlagenen Akteurszentrierung stellte die erste Sektion an die Stelle mythischer Überhöhungen die vielfältigen Zugänge, über die die GFK durch Akteur:innen angeeignet, interpretiert und ratifiziert wurde. Pointiert fand das seinen Ausdruck im Beitrag von ROTEM GILADI (London), der auf die zwischenzeitlich gut erforschte Rolle des Holocausts und der Staatsgründung Israels für die GFK einging.3 Er arbeitete heraus, wie erbittert um die GFK auch innerhalb jüdischer und israelischer Organisationen gerungen wurde. Besonders kritisch gegenüber einer Ratifikation war Israel selbst. Immerhin: Aus Sicht vieler seiner stärksten Befürworter hatte sich mit seiner Gründung 1948 das Problem der jüdischen Staatenlosigkeit erledigt – ihre Beseitigung war ein zentraler Aspekt der Staatsräson. Die GFK drohte also in gewisser Hinsicht auch, die Bedeutung eines jüdischen Staats zu schmälern. Dass Israel die GFK dennoch ratifizierte, war Akteuren wie dem Historiker, Juristen und Direktor des New Yorker Institute for Jewish Affairs Jacob Robinson zu verdanken. Robinson engagierte sich dafür, dass Israel die Konvention 1954 ratifizierte und hatte das Ministry of Foreign Affairs unter erheblichen Druck gesetzt.

Die erste Sektion machte also deutlich, wie sehr die Geschichte der GFK und ihrer Durchsetzung immer auch eine Geschichte ihrer nationalen Aneignung war – und umgekehrt. Das klingt für Jurist:innen banal, ist für Historiker:innen aber hochinteressant: In der Bundesrepublik entwickelte sich so beispielsweise nach JANNIS PANAGIOTIS (Wien) parallel zur GFK mit dem Heimatvertriebenen-Gesetz ein eigenes Regime der Anerkennung, das auf die Gruppe der sogenannten Heimatvertriebenen bezogen war. Obwohl viele von ihnen die ehemaligen deutschen Ostgebiete nach 1945 nicht freiwillig verlassen hatten, waren sie als „deutsche“ Geflüchtete nicht in die GFK eingeschlossen. Das gab Anlass, über den 1949 gegründeten Europarat auf eine weitere Kategorie hinzuarbeiten, die beispielsweise Heimatvertriebene gemeinsam mit griechischen Geflüchteten erfassen sollte – ein (gescheiterter) Coup, der freilich auch auf internationale Anerkennung spekulierte.

SEBASTIAN GEHRIG (London) thematisierte eine weitere deutsche Antwort auf die GFK. Denn die GFK erlaubt es auch, den Rechtsstatus einzuschränken, wenn sicherheitspolitische Bedenken erhoben werden. Im Kalten Krieg konnte die GFK so sogar dazu beitragen, die Rechte von Geflüchteten abzuschwächen. Aus Angst vor Spionage und kommunistischer Unterwanderung drängten Innenministerien der Bundesländer so wiederholt auf eine Überprüfung der Staatsangehörigkeit ausgerechnet der deutschen Heimatvertriebenen – insbesondere der aus der DDR. Ihre Ausweisung sollte die GFK dann, wie sie hofften, aus „Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung“ gestatten.

Die zweite Sektion bildete in gewisser Hinsicht das Herzstück der Konferenz. Sie rückte die Rolle der Dekolonisation ins Zentrum und veranschaulichte, wie in ihrem Zuge neuentlassene Staaten das internationale Rechtsregime (und den Umgang mit Geflüchteten) veränderten. JAKOB SCHÖNHAGEN (Freiburg) zeigte auf der Grundlage intensiver Archivrecherchen, dass die GFK und der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) zunächst keineswegs den Anspruch hatten, die Rechte aller Geflüchteten zu regeln. Stattdessen war die GFK für die Bewältigung jener ganz konkreten Probleme und Herausforderungen konzipiert, die der Zweite Weltkrieg mit sich gebracht hatte.4 Das habe sich mit dem New York Protocol geändert, das dem internationalen Flüchtlingsrecht erstmals seine heutige universelle Gestalt verlieh. Das 1967 verabschiedete Zusatzprotokoll stellte Schönhagen zufolge eine Reaktion auf die neuen Dynamiken und Zwänge dar, die die Dekolonisation innerhalb der Behörde ausgelöst hatten. Kaum erwartet hatten die Beteiligten, dass Geflüchtete bald auch Industriestaaten erreichen könnten. Als sich jedoch in den 1970er-Jahren die Reichweite der Wege von Geflüchteten erhöhte, wehrten sich viele westliche Industriestaaten gegen ihre Aufnahme: Die Rechte Geflüchteter wurden nun wieder enger gefasst – zumindest in der Praxis. Innerhalb weniger Jahre sanken die Pro-Kopf-Ausgaben des UNHCR um 50 Prozent.

Als Ausgangspunkt für diesen Prozess der Ausweitung flüchtlingspolitischer Arbeit kann vielleicht der Algerienkrieg (1954–1962) gelten. FABIAN KLOSE (Köln) zeigte, wie der UNHCR im Algerienkrieg gemeinsam mit anderen Hilfsorganisationen über die „Aufräumarbeiten“ (Schönhagen) des Zweiten Weltkriegs hinausging. Ein Grund dafür waren die massiven Umsiedlungsaktionen, durch die der Kontakt der Bevölkerung zur Front de Libération Nationale (FLN) abgeschnitten werden sollte. Der Krieg und seine exzessive Gewalt zwangen viele Betroffene, Algerien zu verlassen und Schutz in den Anrainerstaaten zu suchen. Unterstützung konnten sie dort kaum erwarten – auch wegen fehlender Ressourcen. Auch deshalb weiteten Organisationen wie Oxfam, das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) und der UNHCR ihr Aufgabenfeld erheblich aus.

Das hatte Auswirkungen – auch auf die Industriegesellschaften abseits des Geschehens, wie PATRICK MERZIGER (Gießen) am Beispiel der Bundesrepublik ausführte. Dort wandelte sich die Sicht auf Geflüchtete spürbar. Denn in den Darstellungen entwicklungspolitischer Akteure – Kirchen und Sozialverbände – waren Geflüchtete zunächst lange mit „Heimatvertriebenen“ parallelisiert worden, wie unter anderem an Darstellungen Geflüchteter aus Hong Kong deutlich werde. Das war eine Form der Selbstinszenierung – aber auch der Wertschätzung. Dies änderte sich in den 1960er-Jahren und zeigte sich an der neuen Aufmerksamkeit, die „Katastrophengebieten“ zuteilwurde. Im Zuge eines als „Katastrophierung“ beschriebenen Prozesses wurden Geflüchtete nun Bestandteil einer neuen Bildsprache, die die Aufgaben zwischen Hilfeempfängern und Helfern klar verteilte. In der Presseberichterstattung jedenfalls wurden sie nun gerne ohne eigene Agency dargestellt: als Opfer sozusagen gleichsam naturwüchsiger Gewalt.

In der letzten Sektion verschob sich die Perspektive aus Algerien, Südostasien und dem Genfer UNHCR-Hauptquartier zurück nach Deutschland und Zentraleuropa. Deutlich wurde hier, wie wichtig der Blick auf die Staaten als flüchtlingspolitische Akteure ist. Denn tatsächlich hat die GFK zuletzt erheblich an Bedeutung verloren. Stattdessen begannen sich seit den 1990er-Jahren alternative Schutzkonzeptionen durchzusetzen, die die Rechte der Staaten stärker akzentuierten. Als eine Geschichte der reinen „Asylverhinderung“ muss die Entwicklung jedoch nicht gelesen werden. Deutlich wurde das im Beitrag von ALMA STANKOVIC (Stuttgart). Sie demonstrierte am Beispiel Deutschlands, wie sich der Umgang mit Bürgerkriegsflüchtlingen seit den 1990er-Jahren verändert hat. Insbesondere in Deutschland hatten viele von ihnen – ohne Papiere zumal – keinen Anspruch auf Asyl. Deshalb waren in den 1990er-Jahren viele Bosnienflüchtlinge weitergewandert. Andere wurden abgeschoben. Das habe sich durch den Bedeutungsgewinn des Europäischen Rechts geändert, wie einerseits die Europäische Menschenrechtskonvention und zuletzt prominent die EU-Massenzustroms-Richtlinie zeige, die die Aufnahme von Geflüchteten aus der Ukraine einheitlich geregelt hat.

Das war nach EMMANUEL COMTE (Athen) kein Zufall. Comte beleuchtete die Rolle Deutschlands und der EU für das Asylrecht und konstatierte, dass nach der Öffnung der Grenzen in Ungarn im Sommer 1989 ein grundlegender Wandel in der europäischen Asylpolitik einsetzte, der im Dubliner Übereinkommen seinen Ausdruck fand. Das 1990 unterzeichnete und nach langen Auseinandersetzungen Ende des Jahrzehnts in Kraft getretene Übereinkommen zeugt von den Bemühungen und Erfolgen Deutschlands, das Asylproblem von der deutschen auf die europäische Bühne zu verschieben. Comte betrachtete damit einen Prozess, durch den Deutschland zum Hauptprofiteur eines Systems wurde, das vor allem die süd- und südosteuropäischen Staaten belastete. Das „Dublin-System“ sieht vor, dass Asylverfahren in demjenigen EU-Staat durchzuführen sind, in den eine Person zuerst eingereist ist. Damit hat es eine neue Dynamik ausgelöst, in der die Außengrenzen der EU verstärkt in das Blickfeld gerieten und Staaten – durch die Kürzung von Sozialleistungen etwa – um die schlechtesten Bedingungen für Geflüchtete konkurrierten.

Die Konferenz half, den Blick auf das Aushängeschild des internationalen Flüchtlingsrechts zu erweitern und zu verschieben. Sie hat gezeigt, wie wichtig die Auseinandersetzung mit den Akteuren selbst ist, um das Gewordensein und das Gemachtwerden des (internationalen) Flüchtlingsrechts und seine Konjunkturen zu verstehen. Diese Spur führt zunächst weg von den ganz aktuellen Problemen des Asylrechts und lädt dazu ein, anders über das Asylproblem nachzudenken und den Blick auf die Betroffenen zu richten: Denn es waren die Geflüchteten selbst, ihre Ziele, Probleme und Deutungen, die den Anlass des Handelns bildeten – für Hilfsorganisationen und Staaten, aber auch für Gerichte und Rechtsanwält:innen, die die Regelungen immer wieder interpretieren mussten. Ihre Perspektive abzubilden, ist eine Herausforderung auch für zukünftige Forschungen.

Insbesondere die zweite Sektion stellte unter Beweis, wie produktiv sich die Auseinandersetzung mit den Flüchtlingen, ihren Herkunftsländern und den erweiterten Reiserouten in der Geschichte des internationalen Flüchtlingsrechts niederschlagen kann. Diese historisierende Perspektive hilft, die Gegenwart von ihrer Geschichte und der Chiffre zu trennen. Dazu fehlte es bislang immer wieder auch an soliden historischen Grundlagen, die eine erkennbar eigenständige Reflexion über das (internationale) Flüchtlingsrecht ermöglichen. Die Tagung hat einen wichtigen Beitrag dazu geleistet, das zu ändern.

Konferenzübersicht:

Sektion I: „Durable Solutions“? Europäische Flüchtlingskrise und die Anfänge des internationalen Flüchtlingsrechts
Chair: Daniel Siemens (Newcastle)

Sebastian Gehrig (London): Flüchtlinge als Sicherheitsrisiko im Kalten Krieg

Jannis Panagiotidis (Wien): Die verhinderte „Internationalisierung“ des deutschen Flüchtlingsproblems nach dem Zweiten Weltkrieg

Rotem Giladi (London): The 1951 Refugee Convention: A Jewish Concern?

Sektion II: Globalisierung des internationalen Flüchtlingsschutzes
Chair: Agnes Bresselau von Bressensdorf (Berlin)

Patrick Merziger (Leipzig): Vom Vertriebenen zum Opfer. Zur Medialisierung des „Flüchtlings“ im deutschen Humanitarismus bis 1990

Fabian Klose (Köln): Dekolonisation als Katalysator des internationalen Flüchtlingsschutzes

Jakob Schönhagen (Freiburg im Breisgau): Die Hintergründe des „New York Protocol 1967“

Sektion III: Post-Cold War
Chair: Julia Eichenberg (Bayreuth)

Emmanuel Comte (Athen): Das vereinigte Deutschland, europäische Integration und die Entwicklung des Flüchtlingsrechts nach Ende des Kalten Kriegs

Alma Stankovic (Stuttgart): Nationalstaatlicher Umgang mit Flüchtlingen aus dem früheren Jugoslawien

Roundtable Discussion

Magnus Brechtken (München) / Leo Lucassen (Amsterdam / Leiden) / Dana Schmalz (Heidelberg)
Moderation: Annette Weinke (Jena)

Anmerkungen:
1 Daniel Thym, Sollbruchstellen des deutschen, europäischen und internationalen Flüchtlingsrechts, Berlin 2019, S. 2.
2 Vgl. dazu: EU-Asylrecht, in: Europäischer Rat | Rat der Europäischen Union, URL: <https://www.consilium.europa.eu/de/policies/eu-migration-policy/eu-asylum-reform/>.
3 Vgl. dazu Ben-Nun Gilad, The British-Jewish Roots of Non-Refoulement and its True Meaning for the Drafters of the 1951 Refugee Convention, in: Journal of Refugee Studies 28.1 (2015), S. 93-117.
4 Andere Beispiele in diesem Sinne stellten die International Refugee Organization (IRO) und die United Nations Relief and Works Agency for Palestine Refugees in the Near East (UNRWWA) dar.